ad usum proprium 
die literarische Seite von Birgit Gerlach

LESESEITE FÜR KINDER UND HELLE ERWACHSENE



Der Biberdamm

 

Im Frühjahr kam über das Auenland ein großes Hochwasser. Viele Tiere ertranken, die Eier der Bodenbrüter verdarben und die Nahrung wurde unter Schlammmassen begraben.
Als gerettet war, was zu retten ging und sich wieder grüne Spitzen durch die Schlammkruste schoben, trafen sich alle Bewohner der Aue zu einer Versammlung. Sie berieten, was zu tun sei, dieses Elend in nächsten Jahr zu verhindern. Nachdem Vorschläge wie „Wegziehen“ oder „Archebauen“ verworfen worden waren, hatte der Fuchs eine Idee: Wir bauen einen Damm!

Er schlug vor, damit die Biber zu betrauen. Sie wohnten gern am Fluss, und ihre Kenntnisse im Dammbau seien unübertroffen. Kein Tier könne es ihnen an Güte und Perfektion gleichtun. Nur, so bat er, dürften sie keine Biberburgen und unterirdische Gänge mehr am Flussufer bauen. Dadurch würde der Damm unterspült und die Mühe wäre umsonst. Natürlich, wenn die Biber zum Schutz aller den großen Damm bauen würden, müssten die anderen Tiere für das Wohl der arbeitenden Biber sorgen. Sie würden die Familien der Arbeiter mit Nahrung versorgen, die jungen Biber im Kindergarten betreuen und die alten und kranken Biber umsorgen und pflegen.
Dies beschloss einhellig die große Versammlung der Tiere.

Der Fischreiher und die Wildenten wussten, wie ein richtiger Damm aussieht. Der Fuchs und die Eule entwarfen einen Plan. Die praktische Ausführung besprachen sie mit dem Maulwurf und den Ältesten und Klügsten der Biber.
Nun begannen die Vorbereitungen zum Bau. Sämtliche Biber und Maulwürfe des Auenlandes fanden sich am Fluss ein. Die übrigen Tiere hatten bereits begonnen, für die zukünftigen Dammbauer oberirdische Hütten zu errichten, denn der Untergrund der Uferregion musste unversehrt bleiben. Schon bald zogen die ersten Bauarbeiter mitsamt ihren Großfamilien in die neuen hübschen Unterkünfte ein.
Jedoch bemängelten die Biberweibchen, es gäbe darin nicht ausreichend Platz, um die Futtervorräte zu lagern.
Eine Vorratswirtschaft sei völlig unnötig, erklärte der Fuchs, denn die anderen Tiere seien nun für die Versorgung der Biber zuständig. So könnten diese sich ausschließlich dem Dammbau widmen.
Außerdem klagten die Bibermütter über die Gefahren durch Feinde, denen ihre Jungen bei dieser rein oberirdischen Lebensweise ausgeliefert seien. Doch der Fuchs versprach ihnen vollmundig, er würde sich persönlich für ihren Schutz verantwortlich fühlen.
Es war rundherum für die Biberfamilien gesorgt und da die Vorteile des neuen Lebens bei Weitem überwogen, packten sie ihre Koffer aus und richteten sich wohnlich ein.
Schon am nächsten Morgen begannen die Bauarbeiten, und sie dauerten den ganzen Sommer.
Täglich mit dem ersten Sonnenstrahl machten sich die Biber auf zum Flussufer, und fortan arbeiteten sie nach Leibeskräften, solange bis die Sonne wieder hinter dem Horizont verschwunden war. Die anderen gingen ihnen zur Hand, sie besorgten Schaufeln und Schubkarren und schleppten Steine und Baumstämme. Die weniger kräftigen Tiere, wie Mäuse, Eichhörnchen und Igel, sammelten Beeren, Mais, frische Knospen und Kräuter und bereiteten Riesenmengen leckeren und deftigen Essens. Alle arbeiteten Hand in Hand. Und so kam es, dass mit Einbruch des Winters das Bauwerk fertig war.
Im nächsten Frühjahr schützte der neue Damm das Auenland vor dem Hochwasser, das wie immer nach der Schneeschmelze kam. Die Tiere dankten den Bibern und waren stolz auf ihr gemeinsames Werk.

Die Biberfamilien blieben am Fuße des Dammes wohnen, um sofort zur Stelle zu sein, falls sich irgendwo ein Leck zeigen sollte. Die Arbeitsteilung blieb so, wie anfangs vereinbart. Die Biber waren für den Damm zuständig, die anderen Tiere für deren Versorgung und deren Schutz. Die Biber führten ein gemütliches Leben. Sie mussten lediglich für den Notfall bereit sein. Aber der Damm war so gut und so fest gebaut, dass nicht eine einzige Pfütze hindurchsickerte.
Auch im nächsten und im übernächsten Jahr hielt der Damm zuverlässig, und die Tiere des Auenlandes lebten in Sicherheit. Noch immer wohnten die Biber in den Hütten am Fuße des Dammes und genossen die Vorzüge des Versorgtwerdens. Allmählich jedoch wurden Stimmen unter den Tieren laut, dass der Einsatz der Biber nun vorbei sei und damit ihre privilegierte Sonderrolle auch. Man könnte jedes Jahr zwei Tiere zum Dammwächter ernennen, und der Rest könnte wie früher sein gewohntes Leben führen. Die gute Tat der Biber sei nun ausreichend gewürdigt worden. Keiner hätte einen Anspruch auf eine lebenslange Versorgung, nur weil er einmal etwas Überdurchschnittliches geleistet habe.
Da ging ein Aufschrei durch die Biberfamilien: „Der Biber hat seine Schuldigkeit getan. Der Biber kann nun gehen!“ „Welche Undankbarkeit!“ „Gegebene Versprechen müssen gehalten werden!“
Der Fuchs bemühte sich, den Streit zu schlichten. Er wusste wohl um die zerstörerische Kraft sozialen Unfriedens. Er sann nach einer Lösung. Der Tümpel im Auenwald trat auch regelmäßig über die Ufer, sobald der Fluss Hochwasser führte. Ein Damm könnte auch das verhindern und sein Bau böte für die Fleißigsten der Biber wieder Arbeit.
Die einen schrieen: „Was, wir sollen schon wieder mit der ganzen Familie umziehen? Nein. Nicht mit uns.“
Die anderen sagten: „Prima, endlich wieder etwas zu tun!“, schwangen ihre Schaufel über die Schulter und machten sich auf zum Auenwaldtümpel. Diejenigen Tiere, die den Bibern wieder zur Hand gehen wollten, die Nahrungssucher und die Kindergärtner, gingen mit.
Die übrigen Biber blieben am Flussufer zurück.
„Keiner kümmert sich um uns“, jammerten sie. „Wir werden verhungern“, begannen sie zu wehklagen.
„Kümmert euch selbst!“, sprachen die Tiere, die dabei waren, ihre Sachen zu packen, um zum Tümpel zu ziehen.

Als die Biber nun wie früher allein am Flussufer lebten, begannen sie wieder, Gänge und Biberburgen zu bauen.
Die Dammwächter, ein Reiher und eine Feldmaus, die am Abend Patrouille liefen, waren außer sich: „Hört sofort auf damit, es wird eine große Überschwemmung geben!“
„Und wen stört das?“, erwiderten die Biber.
Die beiden Dammwächterlein versuchten, sich den Gänge grabenden Bibern entgegenzustellen. Doch die erhoben ihre Schaufeln und jagten die Wächter davon.
Das nächste Frühjahr kam. Das Hochwasser kam. Viele Tiere ertranken, die Eier der Bodenbrüter verdarben und die Nahrung wurde unter den Schlammmassen begraben.



>>>  Kommentare, Kritiken, Anregungen


>>>  weitere GESCHICHTEN FÜR KINDER