ad usum proprium 
die literarische Seite von Birgit Gerlach

INHALT / FUNDUS


EINE GESCHICHTE - EIN MOMENT - FUNDUS


17.01.2021


Martha


Erwin und Martha kannten sich seit mehr als sechzig Jahren. Er hatte mit zweiundzwanzig ihre beste Freundin Lisa gefreit, kurz danach heirateten Martha und Gerhardt. Und auch die Männer wurden Freunde. Dann starb Lisa viel zu früh. Acht Jahre später wurde Martha Witwe. Seitdem verbringen die beiden Übriggebliebenen die Wochenenden und Festtage miteinander, nicht mehr und nicht weniger.

Obwohl sie nicht mit mir verwandt ist, nenne ich Martha Tante. An ihrem Küchentisch habe ich meine Hausaufgaben erledigt, ihr beim Kochen und Putzen, beim Pflanzen und Jäten zugeschaut, auf ihrem braunen Plüschsofa in staubig riechenden Büchern geschmökert, solange, bis das Knarren der Flurtreppe zu hören war, dann ein heiseres Klingeln und mich meine Mutter, müde von der Arbeit, mit nach oben in unsere Wohnung nahm.

Heute trennen mich zwei Stunden Fahrstrecke von Martha, dennoch lasse ich es mir nicht nehmen, in der Weihnachtszeit bei ihr vorbeizuschauen. Zwei Tage nach meinem diesjährigen Besuch rief  sie an, sie war völlig aufgelöst. Erwin hatte plötzlich hohes Fieber bekommen und musste ins Krankenhaus. Zu Silvester kam der nächste Anruf. Erwin war tot. Es sei Corona gewesen.

Erst als man im neuen Jahr wieder begonnen hatte zu arbeiten, kreuzte eine Frau vom Gesundheitsamt bei ihr auf und wies Quarantäne an. Solange Martha nichts fehle, sei das ausreichend, beschied sie, auf das Virus testen müsse man nur die Berufstätigen.
Ich hatte das Amt meiner Stadt selbst informiert, mein Abstrich fiel positiv aus, also hatte mich Erwin angesteckt. Zwei Wochen lang war ich in meine Wohnung verbannt, auf der Baustelle blieb alles liegen.
Das Anstrengendste in dieser Zeit jedoch waren die Telefonate mit Martha. Über Erwin verlor sie erstaunlicherweise kein Wort. Lautstark oder leise weinend beklagte sie ihre Gefangenschaft, dann bekam sie Husten und bestellte ihren Hausarzt. Der hatte sich im Treppenhaus vor ihrer Wohnung einen Schutzanzug, eine Maske und ein Gesichtsschild angelegt. Dummerweise öffnete just in diesem Augenblick Frau Speer von gegenüber neugierig ihre Tür. Mit offenem Mund starrte sie wie gebannt auf den Außerirdischen. Ewige Sekunden vergingen, bis sie sich aus ihrer Versteinerung lösen und die Tür wieder zuschlagen konnte.
Der Arzt untersuchte Tante Martha gründlich, zum Schluss entnahm er mit einem Wattestäbchen aus ihrem Rachen einen Virustest. Seit er ihr gesagt hatte, dass es keine Lungenentzündung ist, war der Husten nicht mehr ganz so schlimm.

Dramatisch war die nächste Begegnung mit Frau Speer. Obwohl ich der Tante eingeschärft hatte, die Wohnung nicht zu verlassen, war sie dennoch hinab zum Briefkasten gelaufen, weil sie die Pflegeschwestern, die täglich ihre geschwollenen Beine verbinden kamen, nicht darum bitten wollte. Frau Speer kehrte mit zwei großen Taschen beladen vom Einkauf zurück. Als sie Martha gewahr wurde, warf sie ihre Einkäufe vor die Briefkästen und stürzte wieder aus dem Haus. Bei ihrem Bericht darüber schluchzte Martha in den Telefonhörer. Nun sei sie eine Aussätzige.

Erst zwei Tage später erfuhr auch sie von ihrem nicht überraschenden, positiven Testergebnis. Die Fortsetzung des Kontaktverbotes war amtlich. Keine Menschenseele treffen! Wenn sie wenigstens in den Park gehen könnte! Noch zwei Wochen Knast, das ist nicht auszuhalten! Sie verfluchte den Arzt. Warum hatte er ihr das angetan? Musste er diesen blöden Abstrich machen? Sie vertraute ihm, seit er damals bei ihr seine Gartenpflanzen gekauft hatte. Ab sofort nicht mehr! Er hatte es verwirkt. Wenn sie in der Wohnung eingesperrt ist, jammerte sie, sei ihr Leben sinnlos. Dann will sie lieber gleich sterben.

Meine Quarantäne ist zu Ende, es geht mir blendend. Endlich kann ich mit dem Elektriker zur Baustelle gehen, seit Wochen habe ich auf ihn gewartet. Als wir zum ersten Stock hinauf steigen, bleibt er keuchend auf halber Treppe stehen, entschuldigt sich. Er habe im September die Coronakrankheit gehabt. Für ihn sei es ein Erfolg, dass er die acht Stufen schafft. Gegen Mittag verabschieden wir uns, alles ist besprochen.
Zurück im Büro sehe ich den Anrufbeantworter blinken. Martha. Mit gemischten Gefühlen wähle ich ihre Nummer. Los, geh schon ran! Endlich. „Halloho“, tiriliert sie, „ich darf wieder rausgehen!“. Und ein Redeschwall lässt mir die Ohren klingen. Zum Schluss druckst sie etwas herum: „Ich wollte noch erwähnen, dass ich mir das mit dem Sterben noch einmal anders überlegt habe.“
Mit einem tiefen Seufzer lasse ich mich in den alten Ledersessel fallen. Mein Blick gleitet zum Fenster. Erst jetzt fällt es mir auf. Es hat tatsächlich geschneit.



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