EINE GESCHICHTE - EIN MOMENT
Ein Fahrrad für Jalil
Schon kurz nachdem Jürgen seine Barbara kennengelernt hatte, kauften sie sich ein heruntergekommenes Bauerngehöft in einem der am dünnsten besiedelten Gebiete des Landes und verbrachten forthin einen großen Teil ihrer freien Zeit damit, das Anwesen wiederzubeleben und daraus ein gemütliches Heim zu machen. Die beiden Kinder, lediglich ein Jahr auseinander, waren anfangs in einer Schüssel mitten in der Küche gewaschen worden, dem damals einzigen ausreichend beheizbaren Raum. Einige Jahre später nutzten die Jungs ein separates Bad neben ihren Zimmern im Dachgeschoss. Das Haus war mit einer gut funktionierenden Zentralheizung ausgestattet, und die Erzählung über das Waschen der Kinder auf dem Küchenboden war eine romantisch verklärte Erinnerung. Jetzt waren die Söhne längst ausgezogen, gingen ihre eigenen Wege, wohnten hunderte Kilometer entfernt und besuchten die Eltern nur noch zweimal im Jahr.
Als zu Beginn des Ukraine-Krieges die Flüchtlinge ins Land strömten, beschlossen Jürgen und Barbara, in die Zimmer im Dachgeschoss eine ukrainische Familie aufzunehmen. So kam wieder Leben in das still gewordene Haus, in der Küche wurde abermals in großen Töpfen gekocht, am Abendbrottisch ausgiebig erzählt und debattiert, und auf der Wiese tobten erneut zwei Jungs herum. Die Spielzeuge der eigenen Söhne wurden vom Dachboden geholt, und Ivan und Leon konnten für ein paar Stunden vergessen, dass sie erst vor vier Wochen ihre Heimat verlassen mussten.
Wenn nun Jürgen und Barbara auf Reisen gingen, hütete jemand das Haus, kümmerte sich um die Katzen und fütterte die Hühner.
Auch einige Jahre vordem, als zahlreiche Flüchtlinge aus dem Süden und aus dem Nahen Osten gekommen waren, hatte Jürgen etwas Gutes tun wollen. Damals waren die zumeist kinderreichen Familien am Rande des Ortes in einem Wohnblock aus den Sechzigerjahren untergebracht. Den Sprösslingen war langweilig. Sie stromerten durch den Ort und entdeckten so auch die Schaukel auf der Wiese vor dem großen Bauernhaus. Es war ein Juchzen und Kreischen, auch ein Schreien und Balgen. Eines Abends kreuzte der Familienvater auf, um seine umtriebige Kinderschar einzusammeln. Jürgen sprach ihn freundlich an und fragte vorsichtig, ob er der Familie irgendwie helfen könne. Sie kämen schon zurecht, wehrte der Vater ab. Schade, ich würde gern etwas tun, setzte Jürgen hinzu. Nach einer längeren Pause begann der Mann wieder leise zu sprechen, holpriges Englisch war durchsetzt mit wenigen deutschen Brocken und mit Worten, deren Bedeutung Jürgen nur erahnen konnte. Er verriet, sich um seinen ältesten Sohn zu sorgen. Der zwölfjährige Jalil wisse nicht, wohin mit seiner jugendlichen Energie. Die Schule beginne leider erst im September, und der Junge habe den ganzen Tag Unfug im Kopf. Zu Hause in seinem Heimatdorf sei er stundenlang mit dem Fahrrad unterwegs gewesen, danach war er abends zu müde, um auf dumme Gedanken zu kommen. Jetzt ist er meist unzufrieden, manchmal sogar abweisend und voller Wut. Besonders für die Mutter sei das ein Problem, schließlich gebe es außerdem drei jüngere Brüder und eine Schwester. Dann brummelte der Mann vor sich hin, lächelte verlegen, entschuldigte sich mehrfach, so, wie wenn er sich im Nachhinein über seine Redseligkeit erschreckt hätte. Höflich bedankte er sich, dass die Kinder auf Jürgens Wiese schaukeln dürfen. Anschließend wechselte er vom Englischen in seine Muttersprache und gab dem Ältesten eine strikte Anweisung zum Aufbruch, vermutlich unter Androhung väterlicher Sanktionen. Die jüngeren Geschwister waren bereits in Richtung Wohnblock davongelaufen.
Dieses Gespräch ließ Jürgen keine Ruhe, und noch am selben Abend beschloss er, das alte Fahrrad seines jüngsten Sohnes, der brauchte es ohnehin nicht mehr und es stand nutzlos in der Tenne herum, wieder auf Vordermann zu bringen. Er kaufte neue Schläuche, reparierte den Kettenschutz, schmirgelte die Roststellen sorgfältig ab und spritzte den Rahmen in einem leuchtenden Blau. Zum Schluss krönte er sein Werk mit einer neuen Klingel und einem Spiegel.
Voller Vorfreude schob er das Fahrrad durch den Ort bis zu dem schäbigen Wohnblock am Ende der Straße, klingelte an der Erdgeschosswohnung, an dessen Tür die Kinder lehnten, die er von seiner Wiese kannte, und verlangte nach dem Familienvater. Der erschien nach geraumer Zeit, schaute mürrisch drein, doch als er den Besucher erkannte, zog ein breites Lächeln über sein Gesicht. Jürgen wies auf das blaue Fahrrad, das er mit dem neu angebauten Ständer vor dem Hauseingang geparkt hatte, und fragte, ob er dies als Geschenk für seinen Sohn annehmen würde. Erst schien der Mann etwas verdutzt, aber dann umarmte er Jürgen stürmisch und wischte sich verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel: „Thank you so much, viele, viele Danke! My sun so happy. Viele Danke! I love Adolf Hitler!“
Jürgen stand da wie versteinert. Hatte er sich verhört? „Niemand liebt hier Adolf Hitler!“, stammelte er und fuchtelte abwehrend mit den Armen hin und her. „Nobody loves him!“
„Is a good man, viele, viele Danke!“, wiederholte der Mann gebetsmühlenartig, und Jalil, der im Hausflur lümmelnd das Gespräch verfolgt hatte, rannte nach draußen, stieß einen Freudenschrei aus, schwang sich auf das leuchtend blaue Rad und düste davon.
Alle wiederholten und deutlichen Einwände gegen seine Liebesbekundungen für den Despoten aus dem Dritten Reich klopfte das Familienoberhaupt freundlich lächelnd und vehement auf Jürgens Schulter weg. Der war völlig überrumpelt. Was nun? Sollte er dem glücklichen Jungen das Fahrrad wieder wegnehmen? Was hatte er da angerichtet? Er fand sich in dieser Welt nicht mehr zurecht. Völlig betäubt trat Jürgen den Heimweg an.
Anmerkung des Verfassers:
Demjenigen, der jetzt einen moralischen Aufschrei ausstößt, sei versichert, dass diese Geschichte genau so geschehen ist. Ganz gleich, ob die Eingereisten aus dem Nahen Osten, vom afrikanischen Kontinent oder von anderswo kommen, die Weltsicht ist zuweilen eine andere. Als erhellende Lektüre sei das Buch „Farbenblind“ von Trevor Noah empfohlen, einem südafrikanischen Kabarettisten und Schauspieler, kein Werk für den anspruchsvollen Literaturliebhaber, jedoch eine die Augen öffnende Lektion für alle, die ähnlich ahnungslos sind wie Jürgen.
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