MEDICUS VULGARIS - AUS DEM LEBEN DES GEMEINEN HAUSARZTES
Weihnachtsdienst
Er übernimmt gern den Notdienst am Heilig Abend. Stefan ist Single, hat keine Igel zu kämmen, und die Kollegen freuen sich, an diesem Tag bei ihren Familien sein zu können. Sein heutiger Kraftfahrer ist auch Junggeselle, man ist also unter sich.
Es ist ein sonniger Dezembertag, außer dem ewigen Gedudel von „Last Christmas“ erinnert kaum etwas an Weihnachten.
Tagsüber gibt es die üblichen Notfälle, Stefan kennt sie zur Genüge:
„Seit einer Woche bin ich schon erkältet, aber jetzt zu Weihnachten ist nirgendwo mehr ein Arzt zu erreichen, und man weiß ja nie, was noch kommt.“
Oder: „Gestern beim Baumaufstellen hab ich mich verhoben. Eigentlich ist es nicht so sehr schlimm, aber während der Feiertage wird keiner zu erreichen sein. Deshalb wollte ich vorsorglich nachsehen lassen, dass es nichts Schlimmes ist mit meinem Rücken.“
Oder: „Plötzlich sind meine Blutdrucktabletten alle geworden! Wenn ich die nicht nehme, geht es mir immer schlecht."
Oder: „Verdammt noch mal, ich kann meine Pillenpackung nicht finden!“
Am Nachmittag ist Flaute. Vermutlich sitzen alle singend unter dem Weihnachtsbaum, und in die Gemüter ist Frieden eingekehrt.
Dann der erste typische Heilig-Abend-Anruf: „Wir haben dem Opa die Geschenke gebracht. Und der will sich umbringen. Auf keinen Fall kann der allein zu Hause bleiben! Der muss unbedingt als Notfall ins Krankenhaus gebracht werden!“
Ein Wohnblock aus den Sechzigerjahren am Stadtrand. Daneben ein Feld, dahinter die Bahngleise, am Horizont die Schornsteine und Kühltürme der Chemiefabrik. Jetzt, am Abend, ein imposantes Bild. In dem kleinen Vorgärtchen läuft eine Frau aufgeregt hin- und her, vermutlich die Anruferin. Der Opa sei schon immer schwierig, redet sie ohne Begrüßung sofort auf Stefan ein, aber heute ist es ganz schlimm. Neben ihr schweigt ein rauchender Mann. Im Treppenhaus türmt sich vom Arbeitsschuh über den abgelatschten Turnschuh bis zu Pumps alles neben den Abtretern. Die Fenstersimse sind mit Porzellanvasen, grinsenden Plasteweihnachtsmännern und Kinderüberraschungsfiguren dekoriert. Der Geruch von Braten, Rheumasalbe und Zigaretten verleiht dem Umfeld eine eigene Note.
In der dritten Etage ist die Wohnungstür leicht angelehnt. Die Frau stößt sie auf, bittet Stefan voranzugehen, er lässt ihr den Vortritt.
Der schwierige Opa sitzt auf dem Sofa. Auf dem Couchtisch liegen zwei Päckchen in Weihnachtspapier. „Sehen Sie sich das an, der hat die Geschenke nicht einmal ausgepackt!“ Der Opa guckt vor sich hin. „Sie müssen den unbedingt mitnehmen, der macht sonst noch Dummheiten.“ Ganz kurz überlegt Stefan, was er bei sich zu Hause mit dem Opa anfangen sollte, fragt dann:
„Sie sind die Enkelin?“
„Nein! Das ist bloß mein Onkel, wir sagen nur Opa. Eigentlich müsste ich mich gar nicht um ihn kümmern. Aber man weiß ja, was sich gehört. Dafür könnte er wenigstens ein bisschen dankbar sein. Stattdessen versaut er uns das Fest.“
Stefan bittet die nun als Nichte entpuppte Frau, für die Untersuchung das Zimmer zu verlassen. Sie dreht sich auf dem Absatz um und schließt hinter sich die Tür mit gebremstem Schwung.
„Die soll doch gehen!“ meldet sich plötzlich der Alte, nachdem die Luft rein ist. „Meine Frau hätte die schon längst rausgeschmissen.“
„Ihr Verhältnis ist nicht sonderlich herzlich?“, tastet sich Stefan vor.
„Herzlich? Eiskalt ist die Frau. Die soll mir meine Ruhe lassen!“
„Ihre Nichte hat Angst, sie könnten sich etwas antun“, beschwichtigt Stefan.
„Die speist mich mit ihren blöden Päckchen ab, weil sie denkt, dass sie dann ein guter Mensch ist. Ich hab ihr gesagt, sie soll ihren Mist wieder mitnehmen. Lieber würde ich tot sein.“
„Und was denken Sie jetzt vom Totsein?“
„Na, am Ende sterben wir alle, das müssten Sie doch am besten wissen.“
„Was werden Sie heute machen, wenn ich und ihre Nichte weg sind?“, fragt Stefan weiter.
„Was soll ich schon machen? Als meine Frau noch gelebt hat, haben wir zu Weihnachten immer 'Drei Haselnüsse für Aschenbrödel' geguckt. Ist zwar albern, war aber so 'ne Tradition.“
„Und mögen Sie den Film auch allein sehen?“
„Nö, der blöde Videorekorder funktioniert sowieso nicht, nur Schruz heutzutage.“
Stefan lässt seinen Blick über den Fernseher gleiten, obendrauf eine Weihnachtspyramide mit der Heiligen Familie, daneben geschnitzte Rehe, dahinter ein wüstes Strippengewirr, dazwischen der verstaubte Videorekorder. Stefan staunt: „Das Ding benutzen Sie noch?“
„Klar, wie soll ich mir denn sonst meine Kassetten angucken? Die Stecker sind richtig drin, doch das Scheißding geht einfach nicht an.“ Der Alte sitzt aufrecht, die Fernbedienung vor der Brust und klickt. Der Fernseher springt an. „Jetzt schalte ich um auf Video“, erklärt er, und die Mattscheibe wird grau. „Und jetzt kommt das Videogerät dran“, er greift sich eine zweite, viel größere Fernbedienung, drückt darauf herum. Nichts passiert. „Neumodischer Mist!“, flucht er.
Da fällt Stefan auf, dass hinter dem Rekorder ein silbriger Ring herunterbaumelt. Er prüft kurz, ob das Koaxialkabel richtig eingesteckt ist, dreht den lockeren Adapterring wieder fest in die Buchse und, oh Wunder: das Gerät funktioniert!
„Prima, Herr Doktor, Sie haben mir wirklich richtig gut geholfen“, grinst er, „und die Jungsche nehmen Sie am besten gleich mit!“ Aber auch die will Stefan nicht zu Hause haben.
„Ist für Sie momentan wieder alles in Ordnung?“, vergewissert er sich.
„In meinem Alter ist das doch sowieso egal. Vielleicht bin ich morgen schon tot. Ohne meine Frau lohnt sich nichts mehr.“
„Kann ich Sie ruhigen Gewissens allein lassen?“
„Gehen Sie nur, es gibt wirklich wichtigere Dinge als einen alten Mann.“
Inzwischen hat die Zentrale einen neuen Einsatz durchgegeben. Er führt in eine berühmt-berüchtigte Straße am anderen Ende der Stadt.
Eine Hausnummer - Fehlanzeige. Schließlich kann man die Häuser abzählen. Am Klingelbrett hängen lose Drähte herum, Namen sind nicht zu entziffern. Das Haus ist stockdunkel außer einem spärlich beleuchteten Fenster im Erdgeschoss. Stefan klopft an die Scheibe. Von drinnen sind laute Stimmen zu hören. Keiner rührt sich. Er klopft abermals, jetzt deutlich beherzter. Das Fenster wird aufgerissen, ein Mann brüllt: „Lass das, du Arsch! Ich soll wohl rauskommen!“
„Sie hatten einen Arzt bestellt?“
„Na, das wird ja langsam Zeit!“ Das Fenster wird wieder zugeknallt.
Alsbald erscheint in der Haustür eine Gestalt mit einer Kerze: „Kommen Sie, das Hauslicht geht nicht, die Idioten haben uns den Strom abgeklemmt. Vorsicht, hier ist 'ne Stufe.“ Im Hausflur stehen Kohleeimer, die schwarz-weißen Fußbodenfliesen sind zerborsten, Zeitungsstapel an der Wand geschichtet, hinten im Dunkel ein mit Gerümpel beladener Kinderwagen. Ein Lichtspalt lässt die Wohnungstür erahnen. Durch einen kleinen Korridor, vollgestellt mit Unmengen leerer Flaschen, geht es ins Wohnzimmer. Um einen runden Tisch sitzen im Kerzenschein kartenspielende Männer, in der Mitte zwei Schnapsflaschen, Bierflaschen an jedem Platz, ein überquellender Aschenbecher. Auf dem Sofa lümmeln zwei Frauen, zwischen ihnen ein großer Eimer Popcorn. Der Fernseher ist dunkel, dient als Ablage für Zigarettenschachteln. Neben dem Sofa ein Tischchen, darauf ein kleiner Plasteweihnachtsbaum mit Glitzergirlanden. Keiner lässt sich stören.
„Worum geht's denn?“ fragt Stefan in die Runde.
„Worum geht’s denn?“, äfft ihn einer der Männer nach.
„Hatten Sie nicht einen Arzt gerufen?“
„Ach, du bist das“, lallt ein anderer, „der Erwin hat da was am Kopp.“
Eine der Frauen schraubt sich vom Sofa. „Hier, mein Schätzchen hat eins auf die Zwölfe gekriegt“, kichert sie. Tatsächlich hockt in der Ecke noch einer, sein Gesicht ist kaum zu erkennen. Stefan leuchtet vorsichtig mit seiner winzigen Mundlampe in das Halbdunkel der Sofaecke. Dem Schätzchen scheint das zu missfallen: „Eh, spinnst du Alter, soll dir wohl die Fresse polieren?“ Über seiner linken Braue klafft eine Platzwunde, das Auge ist fast zugeschwollen. Blut ist auf dem Gesicht verschmiert und klebt in den Haaren.
„Haben Sie zufällig einen Impfausweis?“, fragt Stefan, so wie er es bei Verletzen immer tut, und noch während er spricht, merkt er, das kann er sich sparen.
„Hä, was soll ich 'n damit? Ausweis? Der geht dich gar nischt an! Was bildest du dir ein?“
„Die Wunde am Auge muss genäht werden“, versucht es Stefan weiter mit Vernunft, „wann ist das denn passiert?“
„Passiert? Das Arschloch dort hat mir eins drauf gezimmert. Das zahl ich dir heim!“, und er droht in Richtung Tisch. Die Kartenspieler interessiert das nicht.
„Ich lasse Sie mit einen Krankenwagen zur Chirurgischen Ambulanz bringen. Sind Sie damit einverstanden?“
„Meinetwegen, du Pisser, kannste haben.“
„Gut, ich warte solange draußen“, und Stefan tastet sich durch die Dunkelheit zurück. Der Kerl, der vorhin mit der Kerze geleuchtet hatte, ist ins Kartenspiel vertieft. Die Taschenlampe wagt Stefan erst im Hausflur anzuknipsen.
Der nächste Einsatz lenkt sie in die Aue, in ein Dorf fünfzehn Kilometer entfernt. Eine Tote. Über der Straße hängen weiße Schwaden. Stefan stiert vor sich hin, der Nebel scheint ihn zu hypnotisieren. Der Fahrer indes schildert in den buntesten Farben, wie er diesen Typen gezeigt hätte, wer der Chef ist. Er sei schließlich nicht umsonst Kampfsportler. Stefan stellt sich schlafend und ist im Nachhinein froh, dass sein Begleiter im Auto gewartet hatte.
Hinter dem Dorfteich führt ein unbefestigter Weg zu ihrem Ziel. Am Abzweig zum Gehöft wartet bereits ein Posten und schwenkt eine Lampe. Dann läuft er vor ihrem Auto her und dirigiert sie zum Parken auf den Hof. An der offenen Haustür wird Stefan von einer Frau empfangen: „Tut mir leid, dass sie zu Weihnachten hier raus kommen müssen. Ich bringe sie hin.“ Sie durchqueren das Wohnzimmer mit einem großen, herrlich geschmückten Weihnachtsbaum, auf dem Teppich sitzen zwei kleine Jungs und spielen mit Bausteinen.
Eine schmale Stiege führt zum Dachgeschoss. „Soll ich Ihnen Ihre Tasche abnehmen? Hier ist es sehr eng.“ Stefan lehnt ab, folgt der Frau. Der Mann, der am Abzweig geleuchtete hatte, läuft hinterher. Oben ein Vorraum mit einer Flurgarderobe, wie sie Stefan von seinen Großeltern kennt.
In dem Schlafzimmer steht unter der Dachschräge das Bett, auf dem Nachttisch brennt eine Kerze. Die Tote trägt ein weißes Spitzennachthemd, die Hände liegen auf der Zudecke, darin ein Sträußchen Alpenveilchen. Sie sieht aus wie ein Engel. Stefan schluckt. Alles ist so liebevoll bereitet. Er möchte sich keinesfalls wie ein gefühlloser Pragmatiker benehmen, dennoch muss er eine Leichenschau machen. Das erfordert, den gesamten entkleideten Körper zu untersuchen. In solchen Situationen fällt ihm regelmäßig der Anruf des Gerichtsmediziners ein, der wissen wollte, ob ihm nicht die Schleifspuren an den Fußsohlen aufgefallen waren. Nein, waren ihm nicht, er hatte sie nicht genau genug inspiziert. Hier nimmt er die Begutachtung etappenweise vor, möglicherweise erscheint das weniger rücksichtslos, er lässt jedoch kein Detail aus. Danach legt er die Alpenveilchen wieder auf die Bettdecke. „Danke, das brauchen Sie doch nicht zu machen“, flüstert die Frau und lächelt. Während er den Totenschein ausfüllt, bietet sie ihm eine Tasse Kaffee an. Freundlich lehnt er ab, nicht am späten Abend. Auf dem Rückweg durch das Wohnzimmer fragt ihn einer der Jungs: „Nimmst du jetzt meine Oma mit in den Himmel?“
Heimwärts fahren sie einen Umweg. Stefan möchte unbedingt noch einmal zu dem alten Mann mit dem Videorekorder schauen. Das mulmige Gefühl, er könnte sich doch etwas angetan haben, lässt ihn nicht los. Er klingelt mehrmals. Keine Reaktion. Irgendwann drückt jemand aus dem Haus auf den Summer, es wird gerufen: „Der Alte hört wieder nicht!“ Oben an der Wohnungstür klingelt Stefan noch einmal. Nichts. Er klopft kräftig. Unten geht eine Tür auf: „Was soll denn der Krach!“
Wenn der Video-Opa nicht öffnet, muss er die Polizei um Hilfe bitten.
Endlich raschelt es hinter der Tür. Unten ist der Summer zu hören. Dann Schlüsselklappern. Durch den Türspalt blinzelt der verschlafene Mann: „Was wollen Sie denn noch mal hier?“
„Entschuldigung, ich wollte nur nachsehen, ob es Ihnen gut geht.“
„Klar doch. Das heißt, wenn ich mitten in der Nacht geweckt werde, nicht so.“
„Tut mir leid.“
„Na ja, ich bin auf dem Sofa eingeschlafen, da hätte ich morgen eh nur Rückenschmerzen gehabt. Ich lege mich mal lieber ins Bett. Und Sie können nach Hause gehen. Und schönen Dank noch mal, dass Sie mein Filmedings repariert haben.“ Er gähnt und verschwindet wieder in seiner Wohnung.
Stefan trabt die Treppe hinunter, klinkt, die Haustür ist abgeschlossen. Oh Gott! Mutig läutet er an der Erdgeschosswohnung. Ein Mann in Turnhosen, mit einer Zigarette in der Hand öffnet: „Was'n nu wieder?“ Er mustert Stefan, erfasst die Situation, schlurft fluchend zur Haustür und lässt ihn nach draußen.
Am nächsten Tag trinkt Stefan bereits seinen Morgenkaffee, als die Ablösung hereingestürzt kommt. Marion entschuldigt sich, der Bus sei ausgefallen, sie hat den Weg im Sturmschritt hinter sich gebracht. Ihr Gesicht ist knallrot, sie reißt sich die Mütze vom Kopf, ringt noch immer nach Luft und wünscht ihm: „Frohe Weihnachten!“
„Danke“, knurrt er.
„Und wie war dein Dienst?“
„Nichts Besonderes, wie alle Jahre wieder“, er hebt die Augenbrauen, dann muss er lachen.
Die Winterluft ist heute klar und kalt. Auf den Bus mag er nicht warten. Gemächlich spaziert er durch die menschenleere Stadt. Hinter manchen Fenstern leuchtet auch tags ein Weihnachtsbaum.
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