ad usum proprium 
die literarische Seite von Birgit Gerlach

LESESEITE FÜR KINDER UND HELLE ERWACHSENE



Der Igel-Unfall

 

Die Kerzen waren ausgeblasen, und um den Geruch nach verbranntem Wachs herauszulassen, öffnete ich die Terrassentür sperrangelweit, stellte einen für diesen Zweck mit Steinen gefüllten Korb vor den aufgeschlagenen Türflügel, spülte noch die Teegläser, fegte ein paar Krümel vom Tisch und ordnete die zerdrückten Sofakissen. Zuallerletzt schloss ich wieder die Terrassentür, wobei ein irgendwie schabendes Geräusch zu vernehmen war. Ich wunderte mich, und dann: Oh Schreck! Beim Türzuziehen hatte ich einen Igel mitgeschleift! Hatte er sich hinter dem Korb versteckt? Das zusammengerollte Tier lag auf der Seite. Unter dem Stachelpanzer waren Atembewegungen zu sehen. Fürs Erste war ich beruhigt: Er lebte.

Die Sache ließ mich nicht los. Nach einiger Zeit schaute ich noch einmal nach. Das Tier atmete nicht mehr entspannt und gleichmäßig wie vorhin, sondern ruckweise, viel schneller und sehr kräftig. Um Gottes willen! Habe ich dem armen Igel beim Hinterherschleifen den Kopf verletzt? Oder ihm etwa ein Beinchen ausgekugelt? Er lag da wie ein hilfloses Unfallopfer. Was tun? Kann man einen verletzten Igel retten? Sollte ich ihn zum tierärztlichen Notdienst bringen? Es war schon später Abend, und was machen die mit einem Igel?

Meine Nachbarin füttert alle Tiere der Umgebung, egal wie viele Beine sie haben. Sicher würde sie auch den Igel gesundpflegen. Vielleicht hat er aber gerade deshalb seinen natürlichen Fluchtreflex verloren und hockt völlig arglos auf meiner Terrasse herum, ohne sich jedwede Gedanken um seinen Schutz zu machen. Machen sich Igel überhaupt Gedanken?

Ich fühlte mich schuldig. Irgendwie ist das ein bisschen wie Fahrerflucht. Erst einen Igel totschleifen und dann liegen lassen. Meine Gewissensbisse ließen mir keine Ruhe. Bevor ich mich ins Bett legte, sah ich noch einmal nach. Der Igel war weg! Zuerst wertete ich das als gutes Zeichen. Aber vielleicht sitzt er im dunklen Gebüsch und macht dort seinen letzten Schnaufer.
Weit gefehlt! Der kleine Kerl trippelte, wie wenn es so sein müsste, über die Terrasse und fraß die herabgefallenen Weinbeeren, die die Vögel tagsüber bei ihren Raubzügen heruntergerissen hatten. Und dann hockt sich der dumme Kerl genau wieder an dieselbe Stelle, an der der Unfall passiert ist!
Die Frage, ob Igel irgendetwas denken, mag ich nicht beantworten. Aber wenn, dann vergessen sie auch sehr schnell.



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