LESESEITE FÜR KINDER UND HELLE ERWACHSENE
Sei kein Frosch
Der Weg von der Schule nach Hause führte Lukas am Schlosssteig vorbei. Dieser verwilderte Pfad war mit Sträuchern und mannshohen Gräsern zugewachsen. Genau dort, wo er auf die Goethestraße stieß, an deren anderem Ende Lukas wohnte, stand stets und ständig eine riesengroße Pfütze, die sogar an heißen Sommertagen niemals austrocknete. Mitten in diesem kleinen Tümpel ragten Bruchstücke von Ziegelsteinen aus dem Wasser, die vermutlich irgendwann jemand hineingeworfen hatte, um beim Durchfahren nicht im Schlamm zu versacken. Doch das musste schon sehr, sehr lange her sein. Jetzt konnte man sich durch den Wildwuchs, der den Schlosssteig säumte, geradeso zu Fuß hindurchzwängen. Allerdings gelang dies kaum, ohne in die Pfütze zu treten. Und das wollte niemand. Keiner wusste, wie tief sie ist.
Das Schloss, zu dem der Steig führt, wird weder von Prinzen noch von Prinzessinnen bewohnt. Vorzeiten war es ein Rittergut, zu dem mehrere Stallungen und Scheunen gehörten, außerdem Felder und Wiesen. Der Schlossherr sei nach dem Zweiten Weltkrieg spurlos verschwunden, daraufhin wurden in dem Anwesen Flüchtlinge und Aussiedler aus Schlesien einquartiert. Der Letzte dieser Bewohner soll erst in den Siebzigerjahren ausgezogen sein, oder vielleicht ist er dort auch gestorben. Danach war das Schloss verwaist, und es verfiel zusehends. Eine Behörde ließ einen hohen Zaun ringsherum ziehen, sodass niemand mehr hineinkonnte. Manche behaupten, der Geist des alten Rittergutsbesitzers würde in der Nacht durch die zerfallenen Mauern spuken. Unter den Kindern galt es als Mutprobe, wenigstens ein paar Meter in den zugewucherten Schlosssteig hinein zu laufen.
Heute, an einem besonders langweiligen Schultag, alle anderen hatten sich wie immer für den Nachmittag im Chat verabredet, übte der Schlosssteig auf Lukas eine magische Anziehungskraft aus. Würde er es schaffen, den Gruselweg zu durchqueren, wäre er in der Klasse der Held. Nur ein einziges Mal möchte auch er das sein.
Zwischen den riesenblättrigen Pflanzen und dem Gestrüpp roch es muffig. Und je tiefer er in den Weg eintauchte, desto widerlicher wurde der Modergeruch. Vorsichtig balancierte er am Rand der Riesenpfütze entlang. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Da platschte es. Lukas blieb wie versteinert stehen. In der Pfütze, knapp unter der Oberfläche, schwamm einen kleiner Frosch, durchquerte sie vom Rand bis zur Mitte und verschwand schließlich unter einem der Steine. Lukas war erleichtert. Nichts Schlimmes. Also weiter.
Doch halt mal! Gibt es da nicht so ein Märchen, in dem man sich von einem Frosch etwas wünschen kann? Oder gilt das nur für Prinzessinnen? Nein, glaubte er, ein echter Zauber muss für alle wirken! Indes der Frosch war verschwunden. Flugs brach er aus dem Strauch, an dem er sich soeben vorbeidrängeln wollte, einen Ast und stocherte damit in der Pfütze herum, um das Tier aufzuscheuchen, förderte aber lediglich alte, braune Blätter zutage. Plötzlich sprang wie aus dem Nichts ein tellergroßer, glänzend grün-brauner Frosch genau auf Lukas zu. Er kreischte laut auf, wollte ausweichen und strauchelte rücklings in das Gebüsch. Lachend hüpfte das riesige, grüne Tier zurück auf die Ziegelsteininsel. Seit wann können Frösche lachen, schoss es Lukas durch den Kopf. Doch es kam noch verrückter.
„Warum jagst du mir nach, und was führst du im Schilde, du boshafter, dummer Bengel?“, herrschte der Frosch ihn an.
„Wieso ich? Ich bin nicht boshaft“, stotterte Lukas, „wer springt mich denn hinterlistig an? Und dumm bin ich gleich gar nicht!“
„Vielleicht noch nicht“, kicherte der Frosch und hüpfte einen Stein weiter, „sag, warum hast du nach mir gesucht?“
„Also“, druckste Lukas herum, „aus dem Märchen vom Froschkönig weiß ich, dass Frösche Wünsche erfüllen können. Ich habe auch einen Wunsch.“
Der Frosch blies die Backen auf und ließ schnarrend die Luft wieder entweichen: „Oho, da muss ich dich enttäuschen. Die Nummer mit Küssen, und darauf erscheint ein Prinz, kannst du dir abschminken. Das ist mir zu zuckersüß. Mich müsstest du stattdessen an die Wand werfen. Und dann: Hokuspokus-TikTok-Trallala - steht Shou Zi Chew vor dir. Aber solchen Quatsch lassen wir mal lieber.“ Der Frosch glotzte ihn an: „Na los, wünsch dir schon was, du kleiner Scheißer!“
Also doch! Allerdings - wie redet der denn? Ganz geheuer kam Lukas die Sache nicht vor, der Frosch schien ein bisschen irre zu sein. Andererseits, wenn ich mir etwas wünschen will, überlegte er, muss ich die Kröte schlucken – zum Glück nur im übertragenen Sinne. Reiß dich zusammen, ermahnte er sich selbst. Dennoch trat ihm der Angstschweiß auf die Stirn. Dann gab er sich einen Ruck. „Ich möchte gern ein Handy haben“, rückte er mit der Sprache heraus, „das wünsche ich mir unbedingt, alle haben eins, nur ich nicht.“
„Das ist ja schrecklich!“ rief der Frosch aus, „wie fürchterlich, ein Junge ohne Handy! Was machst du mit deiner freien Zeit nach der Schule, du hast keine Supergames? Wie langweilig! Kein Wunder, dass du dich hier draußen herumtreibst. Und du hast keine Chats! Wie willst du da nur Freunde finden?“
„Ja, stimmt, genauso ist es!“, endlich verstand jemand seinen Kummer. „Alle amüsieren sich in der Pause mit ihren Handys, und ich stehe blöd daneben und habe null Ahnung, worum es geht.“
„Übel, übel“, ließ der Frosch vernehmen, „pass auf, wir machen ein Tauschgeschäft: Du bekommst ein Handy und gibst mir dafür deine freie Zeit und dein Denken.“
„Wie“, fragte Lukas entsetzt, „werde ich dann dumm? Du kannst doch nicht mein Denken bekommen!“
„Nein, nein, keine Angst, du kannst selbstverständlich noch denken“, beschwichtigte ihn der Frosch, und fügte etwas leiser hinzu, „aber nach meinen Regeln.“
„Und wie sind die?“
„Alles ist ausschließlich dazu da, dass es dir Spaß macht. Und du wirst nie mehr unnütze Zeit damit verplempern, dein Gehirn mit unlustigen Dingen zu beanspruchen. Das Denken geschieht wie von selbst, du musst dich überhaupt nicht anstrengen.“
„Das hört sich voll entspannt an“, fand Lukas und ohne zu zögern stimmte er dem Handel zu: „Jawohl, wir machen das Tauschgeschäft.“
„Du bist wirklich ein kluges Bürschchen“, der Frosch grinste.
„Und wo ist jetzt das Handy?“, wollte der Junge wissen.
„Du wirst es bekommen, keine Sorge. Geh nur, und alles wird so geschehen, wie du es dir wünscht.“ Der Frosch hüpfte von dem großen Stein zurück zum Rand der Pfütze, war wieder klitzeklein und verschwand mir nichts, dir nichts von der Bildfläche.
Lukas fühlte sich veralbert, warf wütend den Stock in die Pfütze und lief frustriert nach Hause.
Als er die Wohnungstür öffnete, waren seine Eltern schon daheim, das war ungewöhnlich. Irritiert warf er den Schulranzen im Flur in die Ecke. Üblicherweise gab es dafür umgehend eine Ermahnung, heute schien es niemand zu bemerken. Als er in die Wohnstube trat, lag seine Schwester auf dem Sofa, um den rechten Arm einen dicken, weißen Verband. „Was ist denn hier los?“
„Lena ist vom Klettergerüst gestürzt und hat sich den Arm gebrochen.“ Lukas spürte, wie sich seine Mundwinkel trotz der Unglücksnachricht unwillkürlich nach oben bewegten. Seine unsportliche Schwester auf einem Klettergerüst war ein Bild, das er sich kaum vorstellen konnte: „Wie ist sie denn da hoch gekommen?“ Die Mutter überhörte die Bemerkung. „Ihre Freundin Mia hat vor Angst eine wildfremde Frau angesprochen, ob sie helfen könne. Mia war ganz aufgeregt, weil Lena gebrüllt hat wie am Spieß.“ Lukas musste abermals grinsen. Das mit dem Brüllen kann sie gut, denkt er und beißt sich auf die Unterlippe. „Die Frau hat gefragt, ob Lena denn kein Handy hätte, um ihre Eltern anzurufen. Und natürlich hatte sie keins, weil wir das immer abgelehnt haben.“ Lukas wird hellhörig. „Was sollen denn die Leute von uns denken“, fährt sie fort, „wenn wir unsere Kinder völlig ohne Verbindung zu ihren Eltern auf die Straße lassen? Das werden wir ab sofort ändern.“
Lukas ist platt. Woher hat das der Frosch gewusst? Ihn beschleicht ein ungutes Gefühl. Hat er vielleicht Lena verhext oder dermaßen erschreckt, dass sie gleich vom Klettergerüst gestürzt ist? Das mit dem Erschrecken kann er ja gut. Ihm wird speiübel. Doch dann freut er sich auf das Handy, und alle Skrupel sind vergessen.
Ab jetzt beginnt eine neue Zeitrechnung. Lukas kann endlich in die Spielewelt eintauchen, mit den Kumpels chatten und pausenlos lustige Reels gucken, und heimlich auch solche mit dickbrüstigen Frauen und anderen aufregenden Dingen.
Auf seine Freundin Paula ist er nun nicht mehr angewiesen. Bisher war sie die einzige außer ihm, die ebenfalls ohne Handy leben musste. Endlich ist er im Bilde, worüber sich die anderen auf dem Pausenhof und nach der Schule austauschen. Das allerdings findet er ziemlich enttäuschend. Meist ziehen sie über andere her, Tim hat dabei das Sagen. An Paula, der Ökoschlampe, wie die anderen sie nennen, wird kein gutes Haar gelassen. Matteo verhöhnen sie als Streber und Schleimer, weil der tatsächlich immer seine Hausaufgaben macht. Bei Ahmed dagegen kratzen sich alle ein, denn der hat die krassesten Sneaker und das teuerste Smartphone. Neulich ging ein Clip von Erik rum, den haben sie beim Pinkeln gefilmt. Seitdem traut er sich nicht mehr in die Schule. Und eines von Paula, die in eine Tomate beißt und sich total bespritzt. Alles so blödes Zeug.
Bis nächste Woche muss die Klasse einen Aufsatz über das alte Schloss schreiben. Die Bibliothek im Ort hat zwar seit einer Weile nur noch dienstags geöffnet, aber das ist just kein Problem mehr. Denn Lukas hat das Handy. Dort kann er über die Geschichte des Ritterguts recherchieren, weil die Bibliothek bereits eine Menge Material über die Heimatgeschichte ins Netz gestellt hat. Es ist wahnsinnig spannend, was in dem sogenannten Schloss alles passiert ist. Er stößt auf alte Liegenschaftskarten, Lieferscheine für Getreide und findet Listen mit zugeteilten Zwangsarbeitern. Lukas liest wie gebannt, erst in der Bibliothek, dann im Netz. Es gibt sogar ein Verzeichnis über die Zuteilung von Wohnraum an Flüchtlinge aus dem Jahr 1946. Anfänglich waren die Menschen in einer Scheune untergebracht, weil das Schloss noch Sitz der Kommandantur der Besatzungsmacht war. Das alles hat er bisher nicht gewusst.
Während er darüber nachdenkt, wie aus alldem ein Aufsatz werden könnte, ploppt plötzlich auf dem Display der Frosch auf. Woher kommt der denn jetzt, staunt Lukas. „Wie wäre es, wenn du ganz entspannt gamen könntest, anstatt so einen langweiligen Aufsatz zu schreiben?“, säuselt der Frosch. Woher weiß der eigentlich, was ich gerade mache, wundert sich der Junge. „Nimm ChatGPT wie ein Profi! Damit ist das pipileicht und geht viel schneller und besser. Nur Loser verplempern ihre Zeit mit solchem Quatsch wie Aufsätze schreiben.“ Und wie durch magische Froschhand rödelt die KI einen Text mit der Überschrift „Die Schlossgeschichte“ zusammen. Ganz nebenbei hat ihn der Frosch beim Gamig zwei Level nach oben katapultiert. Hammer! Das muss er sofort ausnutzen.
Dummerweise verliert er am Abend jedoch all seine Punkte, weil der Farmer versehentlich den Verschlag des Schafstalls aufgelassen hat, und der Wolf hat die Herde sämtlich aufgefressen. Lukas ist am Punkt Null, legt sich ins Bett, das Spiel ist ohnehin verloren.
Zwei Tage später wird er vor der Klasse stehen und sich von der Lehrerin fragen lassen müssen, woher er denn die Informationen für seine Niederschrift habe. „Du hast völlig falsche Fakten verarbeitet“, bemängelt sie, „welche Quellen hast du denn genutzt?“ Er weiß es nicht. Er hat keine Ahnung, wo die Daten her sind. Was da steht, bemerkt er erst jetzt, hat mit dem, was er über das alte Schloss in Erfahrung gebracht hatte, nicht das Geringste zu tun. Vermutlich hat die KI aus Mangel an für sie einfach lesbaren Informationen über das Schloss seines Heimatortes einfach die Einträge über ein anderes Schloss genutzt. So ein Betrug!
Er steht da wie ein begossener Pudel, und die Klasse amüsiert sich köstlich. Spätestens nach Schulschluss hat jeder diesen peinlichen Clip gesehen. Nun ist er der Nächste, der zur Schnecke gemacht wird.
Niedergeschlagen trottet er heimwärts und macht Halt am Abzweig zum Schlosssteig. Wütend wirft er das Handy in die große Pfütze und beschließt, ab morgen krank zu sein. Unter dem Vorwand Bauchschmerzen zu haben, legt er sich ins Bett. Am Abend kocht ihm die besorgte Mutter Hühnerbrühe. Er muss tatsächlich sehr leidend aussehen, er darf sogar am nächsten Tag zu Hause bleiben.
Mittags klingelt es, und Paula steht vor der Tür. Lukas staunt. Ein Glück, sie ist nicht sauer auf mich, denkt er, Paula ist wirklich ein echter Freund. Sie erzählt ihm, dass sie auf dem Weg hierher, genau dort wo der Schlosssteig in die Goethestraße mündet, ein Mann angesprochen hat: „Der trug einen glänzend-grünen Anzug und dazu komische braune Zehenschuhe, völlig schräg. Er hat mich so schleimig angelächelt, mir ist sein ungewöhnlich breiter Mund aufgefallen, irgendwie unheimlich. Und dabei hat er mich wie gebannt mit seinen Froschaugen fixiert.“ Paula schneidet eine Grimasse, zieht ihren Mund breit und verdreht die Augen. Lukas weiß nicht, ob er lachen oder sich gruseln soll. „Er hat mich gebeten, meinem Freund dieses Smartphone hier mitzunehmen“, sie holt plötzlich Lukas' Handy aus der Schultasche, „er hätte es verloren. Bevor er es mir in die Hand drückte, hatte er es an seinem Hosenbein abgewischt, wo es eine fette Schlammspur hinterließ.“ Lukas wird kreideweiß. „Ich habe mich zwar gewundert, woher er wusste, wohin ich gehen will“ spricht Paula weiter, „aber ich habe ihm trotzdem versprochen, dir das Handy zurückzugeben.“
Lukas ringt nach Luft. „Nein!“, schreit er, und seine Stimme überschlägt sich, „Nimm das weg! Nein!“
„Nun krieg dich wieder ein“, beruhigt ihn Paula, „das Handy tut dir nichts!“
„Es macht mich fertig“, schluchzt er.
„Hey, das Ding hat keine Macht über dich.“
„Doch, hat es!“
„So ein Schwachsinn“, widerspricht Paula, „du bist der Chef. Das olle Ding da ist dein Diener. Das hat dir gar nichts zu sagen.“
„Es ist an allem Schuld. Der Aufsatz ist versaut. Das Farmergame ist verloren. Und Social media lacht über mich. Ich bin erledigt.“
„Hör auf zu jammern! Das ist ja kaum zum Aushalten! Schließlich bestimmst nur du allein über deine Zeit und über dein Handeln. Freilich, wenn du die Verantwortung abgibst, geht alles den Bach runter.“
Lukas wischt sich verschämt eine Träne von der Backe.
Paula lässt sich in einen der gemütlichen Polstersessel fallen. Dann lächelt sie ihren Freund an: „Eigentlich bin ich hergekommen, um dir einen Vorschlag zu machen.“
Lukas sieht sie erwartungsvoll an. Sie steht wieder auf, breitet bedeutungsvoll die Arme aus und verkündet: „Wir werden gemeinsam das Geheimnis vom Spuk am Schlosssteig lüften!“
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