ad usum proprium 
die literarische Seite von Birgit Gerlach

INHALT / FUNDUS


EINE GESCHICHTE - EIN MOMENT

 

 

Die Innovation des Gestrigen


Während ich die restlichen Obststücke meines Frühstücks vertilge, widme ich mich der Tagespresse, und das ganz altmodisch mit raschelndem Papier. Muss das sein? Die armen Bäume. Doch Bildschirmgucken wird es heute noch genug geben. Die armen Augen. Auf Seite drei springt mich eine fette Überschrift an: „Längeres Leben für alte Haushaltsgeräte“. Sofort beginnt mein Hausfrauenherz höher zu schlagen, und alle Sinne sind fokussiert. Die EU habe, so ist zu lesen, einen Rechtsanspruch ausgehandelt, nach dem Geräte wie Handys, Kaffeemaschinen oder Geschirrspüler künftig repariert werden müssen, wenn der Kunde es verlangt. Wird er es verlangen? Was kostet mehr, alt oder neu? Jedenfalls sollen die Voraussetzungen geschaffen werden, dass unabhängige Betriebe dafür auch gebrauchte oder 3D-gedruckte Ersatzteile verwenden können. Bis die Verbraucher tatsächlich von den neuen Regeln profitieren werden, müssen noch der EU-Rat und die EU-Kommission zustimmen. Sollte das Gesetz auf EU-Ebene verabschiedet werden, ist es wiederum Angelegenheit der einzelnen Mitgliedsstaaten, die Vorgaben umzusetzen. Die haben dann zwei Jahre Zeit, die EU-Vorschrift in ihr eigenes nationales Recht umzuwandeln.

Von Vertretern der Abfallwirtschaft sei das Verhandlungsergebnis bereits begrüßt worden.
Es wird geschätzt, dass damit 35 Millionen Tonnen Müll gespart werden könnten und die Treibhausemissionen im Verlauf von 15 Jahren um 18,5 Millionen Tonnen zurückgehen könnten. Man konstatiert: Die Ära der Wegwerfgesellschaft ist vorbei!

Und prompt erinnere ich mich schmerzhaft an meinen dahingegangenen Toaster, im unverwechselbaren blau-weißen DDR-Design, der zwar unbeirrt und goldbraun toastete, aber schon deutliche Gebrauchs- und Schmauchspuren aufwies. Letztendlich trennte ich mich nach zwanzig gemeinsamen Jahren auf Betreiben meiner Tochter von dem zuverlässigen und unbestritten hässlichen Gerät. Es wurde durch einen modern designten, leuchtend blauen Supertoaster ersetzt. Dieser jedoch segnete pünktlich nach Ablauf der Garantie das Zeitliche. Nun wurden in regelmäßigen Abständen immer wieder neue, zeitgemäße, hübsch ausschauende Toaster angeschafft. Ganz klammheimlich hatte ich aber den alten nicht vollständig entsorgt, wer kennt das nicht, sondern erst einmal in der Garage zwischengelagert. Nachdem auch das zweite und dritte Designmodell von hinnen gegangen war, schlich ich mich zu seinem Verbannungsort und war fest entschlossen, ihn reumütig wieder in meinen Dienst zu nehmen. Doch leider hatten einige fette Spinnen die feingliedrigen Gitter und Verstrebungen in seinem Inneren längst als idealen Ort für den Bau ihrer Nester erkannt, und ich musste mich nun endgültig von meinem geliebten und gehassten Ost-Toaster trennen.

Heute Abend sind wir bei Freunden eingeladen, und als kleines Mitbringsel hatte ich gestern Käseplätzchen gebacken. Zum Teig bereiten benutze ich immer noch mein seit wohl 40 Jahren treu dienendes Rührgerät RG 28. Aus einem unerfindlichen Grund bin ich kürzlich im Internet auf einen Blog über Küchengeräte gestoßen. Einige Nutzer beteuerten, nie wieder ein so gutes Gerät gefunden zu haben, das dem historischen RG 28 das Wasser reichen könnte. Seitdem hoffe ich jedes Mal inständig, dass meiner noch eine Weile mitmacht. Selbst wenn jetzt wirklich die Reparatur von Haushaltsgeräten zur Vorschrift werden sollte, wird vermutlich trotzdem niemand diesen alten Schinken am Leben erhalten können. Dann wäre alles Rühren freudlos.

Da fällt mir mein Waschmaschinenmonteur ein, der ist zweifelsfrei der Zeit voraus und muss nicht erst auf EU-Beschlüsse warten. Neulich ließ sich der Waschautomat nicht mehr öffnen, nicht einmal vom wiederholten Betätigen des mechanischen Nothebels war die Tür zu beeindrucken. Dummerweise lag im Bauch der Maschine nasse Wäsche. Wie ein Messias erschien er, ein Handwerker, der Traditionsbewusstsein und Klima-Retten brillant miteinander verbindet. Er legte Hand an, und Sesam öffnete sich. Meine Wäsche war gerettet. Ohne mit der Wimper zu zucken, baute der Monteur einen neuen Rahmen für die Bullaugentür ein, und das erst, nachdem er sorgfältig geprüft hatte, ob es nicht ausreicht, lediglich den Schließmechanismus auszutauschen. Jedoch war vom Rahmen so ein kleiner Plastenippel abgebrochen, ein Ereignis, das in der Regel das Ende der Garantiezeit anzeigt.

Wenn ich über Nachhaltigkeit schwadroniere, muss ich natürlich zugeben, dass auch ich wieder lernen muss, zum Einkaufen meinen eigenen Beutel mitzunehmen. Man hat sich schnell an die Tütenunsitte gewöhnt. Zwar sammle ich die Plastetüten und benutze sie solange, bis sie verschlissen sind, für viele weitere Dinge, aber auch das ist entweder noch gestrig oder schon wieder innovativ.
In den Neunzigerjahren, als ich das erste Mal Urlaub auf einer Mittelmeerinsel machte, war ich völlig geschockt, an einem Abschnitt naturbelassenen Strandes Unmengen Plastetüten, Plastebecher, Plasteflaschen und dergleichen herumliegen zu sehen. Auch überall in der Landschaft flatterten die dünnen, blauen Tüten herum, in die die Händler üblicherweise für ihre Kunden die Markteinkäufe füllten. Es war mir überhaupt nicht nachvollziehbar, wie man alles einfach wegwerfen kann und so wertvolle Ressourcen verplempert. Irgendwann denkt man nicht mehr darüber nach und fährt mittwochs die volle gelbe Tonne an den Straßenrand.
Früher konnte ich mir nicht erklären, warum bei der Westverwandtschaft eine Schere zur Küchenausrüstung gehörte. Spätestens, als die Wurst in einer hermetisch abgeschlossenen Plastehülle eingesperrt war und man nur unter Einsatz von Leben und Gesundheit zum Objekt der Begierde vordringen konnte, hatte ich es begriffen. Manche Dinge sind so fest in ihre harten Plasteformen gepresst, dass ich sie vor Wut am liebsten gleich ungeöffnet wegschmeißen würde. Also ein probates Mittel, den Warenkreislauf zu beschleunigen. Die Pappschachtel, die zusätzlich zierende Außenschicht war, ließ sich dagegen ziemlich leicht zerreißen. Kommt aber in die blaue Tonne.

Andererseits finde ich die Idee, mit eigenen Gefäßen zum Einkaufen zu gehen und die Lebensmittel lose in die mitgebrachte Schüssel zu schaufeln, doch etwas aus der Zeit und aus der Norm gefallen. Mir erscheint diese Verfahrensweise nicht nur gestrig, sondern mittelalterlich, oder eben für solche wie mich zu weit in der Zukunft gelegen. Womit wurden eigentlich die Seuchen im Mittelalter verbreitet, mit dem Zucker, mit dem Mehl oder womit sonst? Man sagt, die Ratten seien es gewesen. Davon gab es wohl mehr als heute, ist zu mutmaßen.
Und war damals noch etwas? Ach ja, die Neigung zu Extremen: Himmel oder Hölle, Tugend oder Scheiterhaufen.
Dieser geschichtsträchtige Schwarz-Weiß-Modus ist momentan wieder salonfähig: Entweder Dreifachverpackung oder Mehl auf die Hand, dafür oder dagegen, zukunftsorientiert oder veraltet.
Doch halt! Der Zeitungsartikel über die klugen EU-Beschlüsse sagt uns, dass nun das Alte nicht mehr sofort entsorgt werden soll. Dazu haben sich die Gremien nach langen Verhandlungen am grünen Tisch durchgerungen. Diejenigen Menschen, die an Küchentischen, Arbeitstischen, Werkbänken oder wo auch immer sitzen und stehen, wissen allerdings schon längst, dass Handanlegen zumeist sinnvoller ist als Wegwerfen. Und es spart Taler und Euronen. Es wäre klug und tugendhaft, den Lenkern des Sternenkranzes einiges über die Mühen der Ebene und über die zuweilen höllischen Abgründe des Daseins zu verraten, denn sie wissen nur, was sie tun. Dann würden die Sterne wieder leuchten und am Ende kämen alle in den Himmel.



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