EINE GESCHICHTE - EIN MOMENT
Der Optimierer
Im letzten Augenblick springt Herr Friedrich zur Seite, strauchelt, fängt sich aber. Blitzschnell zischt ein Rennrad an ihm vorbei. Das Skizzenbuch des alten Mannes ist auf den staubigen Weg gefallen, und das Schwanenpaar, dem der Alte seine ganze Aufmerksamkeit gewidmet hatte, schwimmt gemächlich davon und verschwindet hinter dem Schilfgürtel. Schade, die Zeichnung war noch nicht fertig. Auch der Sportler ist verschwunden, lediglich sein neongrüner Dress leuchtet ab und zu noch am Uferweg auf.
Konzentriert hat Leon seinen Fahrradcomputer im Blick, er liegt gut in der Zeit, die Belastungsfrequenz ist ausgereizt. Heute schafft er den nächsten Level im Trainingsplan. Die Kamera läuft und natürlich das Tracking. Denn was nicht in der App ist, ist nie passiert. Irgendwelche Schwäne hat er nicht gesehen. Und auch ihnen ist dieser getriebene Mensch egal, der schwitzend um den See hetzt. Genauso verbissen, wie er auch sonst von Termin zu Termin jagt. Schließlich muss man etwas schaffen, und zwar etwas Vorzeigbares.
In der allergrößten Not könnte er ein paar Kilometer für die Fahrrad-App kaufen. Doch momentan läuft es bestens. Aber gut zu wissen, Image ist bezahlbar. Die Performance ist das A und O. Geiles Outfit, reflektierender Helm, die stylische Sonnenbrille am besten vom Testsieger.
Meetingpoint ist das Café. Das richtige, versteht sich. Der Kaffee ist Kult, für alle. Ist zwar blöd nach dem Auspowern, aber macht man halt so. Also die Community. Die mit den guten Zeiten. Und natürlich muss es der richtige Kaffee sein, nicht irgendein Billigscheiß. Selbstverständlich im Kaffeebecher. Alles andere wäre Stilbruch. Tasse? Undenkbar auf dem Selfi.
Am Abend scrollt Leon die Bilder von unterwegs durch. Schöne Fotos bringen Klicks. Oder ein Reel über die Optimierung der Herzfunktion posten, könnte ein Catcher für Kommentare werden. Oder eine Kampagne anstoßen, neue Follower garantiert. Wenn er einen Hype lostreten könnte, das wär's. Manche haben's drauf. Der Schriftzug auf dem Technischen Rathaus am Hans-Böckler-Platz in Mühlheim ging viral – „To watch with eyes unclouded“ – eine Wahnsinnsidee! Und das sollte Kunst sein.
Kunst ist ohnehin so eine Sache. Vor einer Weile schon lief da was mit Bildern. Voll schräg. Also gemalte, aus dem Museum. Das hatte tatsächlich Sog. Gemälde gucken, teilen und commenten. Da gab es eine Superausstellung in Berlin und in Hamburg, wohl auch in Dresden, voll analog. Ein Chichi zum zweihundertfünfzigsten Geburtstag von Caspar David Friedrich. So ein verschrobener Maler, der auf Landschaft gemacht hat. Der soll mit Stift und Skizzenbuch durch die Gegend geschlichen sein. Wie mühsam, denkt Leon, die Dashcam ist da echt effektiver. Hast mehr Bilder in kürzerer Zeit und musst nicht vom Rad. Das läuft aber nur easy, wenn nicht so trottlige Rentner auf dem Weg herumtrödeln wie vorhin der Alte. Der hat vor Schreck gleich sein Buch weggeworfen. Muss er eben aufpassen und nicht träumen. Leon scrollt noch einmal zurück und zoomt den Alten näher ran. Und da liegt auch sein Buch, aufgeklappt. Na guck an, der hat tatsächlich gemalt! Und was soll das sein? Leon zoomt noch weiter ran: Schwäne! Wo hat er die denn gesehen?
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