ad usum proprium 
die literarische Seite von Birgit Gerlach

INHALT / FUNDUS



MEDICUS VULGARIS - AUS DEM LEBEN DES GEMEINEN HAUSARZTES - FUNDUS

11.09.2023


Rüssel


Als Letztes stand ein einziger Checkup auf dem Programm, üblicherweise waren es drei. Es wird wohl daran gelegen haben, dass wir November schrieben. Drei Monate zuvor war August, Urlaubszeit, Praxis zu, keine Patienten, also ist niemand da, der in hundert Tagen, dem Zeitraum, in dem eine große Tablettenpackung aufgebraucht ist, wiederbestellt werden muss. Und obwohl ich jedes Jahr den Terminplaner im Zeitraum vor und nach der zu erwartenden Novemberlücke blockiere, um meine Helferinnen zu zwingen, zuerst Patienten genau in diesen vier Wochen zu bestellen, gelingt es der magischen Urlaubslücke dennoch alljährlich, sich triumphierend durchzusetzen. Ein Kampf gegen Windmühlenflügel.
Nun standen nach der Sprechstunde nur noch zwei Hausbesuche auf dem Plan, und der Schreibkram auf meinem Tisch war übersichtlich und nicht dringend. Es machte sich schon ein wenig Feierabendstimmung breit.

Gut gelaunt betrat ich das Behandlungszimmer, begrüßte kurz den älteren Herrn, erinnerte daran, dass für heute der große Check geplant war und begann ohne Umschweife mit der Untersuchung. Aufmerksam verfolgte der ehemalige Lehrer mein Tun, atmete beim Abhören vorbildlich ein und aus, erkundigte sich, ob der Hautfleck an der Schulter etwas Schlimmes sei. Während er über seine Kniebeschwerden sprach, denen er jedoch mit regelmäßiger Gymnastik beikommen würde, schwang er sich auf die Untersuchungsliege. Die Knie- und Hüftgelenke waren unauffällig, die Durchblutung und die Reflexe in Ordnung. Beim Abtasten der Bauch- und Nierenregion fiel mein Blick unwillkürlich auf die leicht angegraute Unterhose, auf der in großen Lettern das Wort „Rüssel“ prangte. Nur mit Mühe konnte ich den Anflug eines Lachers unterdrücken. Wie peinlich. Er wird vermutlich einfach die zuoberst liegende Hose gegriffen haben, und auch seiner Frau war der Fehlgriff offenbar nicht aufgefallen. Später, als er mir beim Ankleiden sein Hinterteil zuwandte, konnte ich dort „und tschüss“ entziffern. Am liebsten hätte ich vor Lachen losgebrüllt, zwang mich jedoch, die gebotene Sachlichkeit zu wahren, biss mir in die Wangentaschen, um den Mundwinkeln den Weg nach oben zu verwehren.

Mit dem wieder in gesellschaftlich angemessener Robe befindlichen Patienten wertete ich die Untersuchungsergebnisse aus und erörterte die Laborbefunde. Er stellte Fragen zur Ernährung, wollte wissen, ob er alles richtig mache. Ganz stolz berichtete er von seinem täglichen Sportprogramm und ließ nicht unerwähnt, dass auch mit der Sexualität noch alles klappen würde. Für sein Alter sei er sehr zufrieden mit sich. Ich schrieb und schwieg. Innerlich ermahnte ich mich zur Contenance. Eine lächerliche Unterhose ist belanglos. Vergiss sie. Du bist Arzt und Vertrauensperson, keine alberne Göre, die über den versehentlichen Missgriff eines seriösen älteren Herrn urteilt. Meine Disziplinierung funktionierte. Und so konnte ich über die Potenz als einen wichtigen Indikator zur Beurteilung der allgemeinen Gefäßsituation und insbesondere der Herzkranzgefäße referieren. Er war mit diesen Auskünften höchst zufrieden.
Wir vereinbarten einen Termin im kommenden Jahr und verabschiedeten uns. An der Tür drehte er sich noch einmal um und versicherte mir, dass er sehr gern in die Praxis käme, und die Behandlung sei hervorragend. Die Tür klappte von außen zu, und ich ging ins Nebenzimmer zum Drucker, um die Rezepte zu unterschreiben.
Meine Helferin empfing mich mit einem breiten Grinsen. Neugierig fragte sie: „Hat er Ihnen auch erzählt, dass er extra diesen besonderen Schlüpfer für den heutigen Untersuchungstermin herausgesucht hat?“
„Nein, hat er nicht. Zum Glück.“



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