ad usum proprium 
die literarische Seite von Birgit Gerlach

INHALT / FUNDUS


LESESEITE FÜR KINDER UND HELLE ERWACHSENE - FUNDUS


18.05.2023


Das Geheimnis im Krokusbeet


Der Blick aus dem Küchenfenster hat sich verändert. Anton ahnt noch nicht, woran es liegen könnte. In diesem Moment reißt die graue Wolkendecke auf, und die Frühlingssonne taucht den Garten in ein kaltes, helles Licht. Und da fehlen sie im Bild, die violetten und gelben Krokusse, die noch gestern freundlich herüber leuchteten. Er läuft hinaus, will sich aus der Nähe vergewissern. Nein, es liegt in der Tat nicht an geschlossenen Blütenköpfen, die Köpfe sind ab. Abgerissen, in exakt einer Höhe haben alle denselben verräterischen weißen Trennrand. Anton spürt, wie ihm der Zorn vom Bauch in den Kopf steigt, flucht über imaginäre Idioten, Armleuchter und Schlimmeres. Wer klaut Krokusse? Die stellt doch keiner in die Vase. Will mich jemand ärgern, fragt er sich. Spontan fällt ihm keiner ein, und wer wäre denn so kleinkariert, Frühlingsblumen auszureißen?

Später erinnert er sich, dass im letzten Jahr die Stiefmütterchen in den Pflanzschalen auf genau dieselbe barbarische Art und Weise geköpft worden waren. Und er hatte die Diebe ertappt. Es waren allerliebst aussehende Rehe, eine ganze Familie, die in dem kleinen Wäldchen hinter seinem Haus Quartier bezogen hatte. Aber fressen Rehe Krokusse? Bis jetzt hatte er angenommen, diese Frühblüher seien giftig, aber vielleicht ist das ein Ammenmärchen. Um sich zu vergewissern, wählte er die schnelle Methode und befragte Dr. Google. Tatsächlich behaupten die Natur- und Gartenratgeber, Krokusse gehörten nicht zum Speiseplan der Waldbewohner. Ihn beschleichen Zweifel. Kann man dem World Wide Web überhaupt noch trauen? In Zeiten, in denen Fake News Hochkonjunktur haben? Es wäre durchaus möglich, dass der Clan der genusssüchtigen Rehe die Einträge manipuliert hat, auf dass sich die Gartenbesitzer in Sicherheit wiegen.
Selbstverständlich begnügte er sich nicht mit den Aussagen einer Seite, außer die der Natur- und die der Gartenfreunde besuchte er das Blumenforum, das Wildtierjournal und Plattformen von Vereinen der Gartenlust, aber auch die der Kleingärtner mit Frust. Um völlig sicher zu gehen, besann er sich auf die altmodische Recherchemethode, seinen Bücherschrank, also das Gartenbuch darin, und fand nichts über krokusfressende Rehe, nicht einmal in dem ehrwürdigen Naturkompendium, das er von seinen Großeltern geerbt hatte. Doch wie gestrig muss jemand sein, noch in Büchern zu kramen, wo doch fast alles im schnellen Netz steht? Zumal die Dinge, die in alten Büchern stehen, längst von neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen überholt wurden. Gehören verstaubte Bücher in die Abfalltonne? Zuweilen soll es geschehen sein, glaubt Anton zu wissen, dass neue Entdeckungen ein zweites Mal gefeiert wurden, weil sie im Laufe der Zeit vergessen worden sind. Unzweifelhaft, meint er, sei der Gedanke, dass schon einmal gedacht worden sein könnte, was man denkt, ernsthaft zu bedenken.
Lange Rede, kurzer Sinn, überall steht geschrieben, die lieben Tierchen und Krokusse passen nicht zusammen. Nur sie selbst scheinen das nicht zu wissen, befürchtet er. Sind sie dumm? Keineswegs. Im letzten Sommer hatten sie nahezu alle Blüten von seinen Beeten vertilgt, lediglich der Fingerhut war verschmäht worden. Sie sind also im Bilde.

Die Krokusse jedenfalls waren ihnen so gut bekommen, dass jetzt schon wieder die Stiefmütterchen dran waren. Eines Morgens, er saß am Küchentisch und tippte auf seinem Laptop herum, sah ihn ein Paar glänzender, dunkelbrauner Glubschaugen an. Er war völlig verdattert, Auge in Auge mit einem Rehböckchen. Seelenruhig drehte sich das herzzerreißend niedliche Tier zur Seite und zupfte genüsslich die Blüten aus dem Blumenkasten. Er sprang vom Stuhl, riss die Terrassentür auf, und mit einem Satz war sein Gast verschwunden. Die Rehe scheinen sehr wohl zu wissen, dämmerte ihm, dass ihnen dieses hinter Glas lebende, zweibeinige Tier nichts anhaben kann. Vielleicht ist es auch nur ein Spiel oder eine Mutprobe: Wer traut sich Blumen zu klauen, wenn der Zweibeiner zuguckt? Oder es ist ein Riesenspaß, so wie Kinder Kirschen klauen, obwohl sich im eigenen Garten der Baum unter den reifen Früchten biegt.

Seine Nachbarin ist eine Eingeborene, sie meint, die Rehe hätten hier schon gelebt, bevor es die Häuser auf der Wiese gab. Schutz vor ihnen böte nur ein übermannshoher Zaun. Doch dann sitzt er in seinem Garten wie in einem Käfig, und die Tiere sehen von draußen zu, Zoo andersherum. Werden sie etwas durch die Gitterstäbe stecken? Eine Möhre? Ein Stück Brot?

Neulich beobachtete er ein junges Böckchen, möglich, dass es der Dieb vom Blumenkasten war, es wippte ein wenig auf seinen wackeligen Stelzenbeinen hin und her, und das reichte als Anlauf, um mit einem Satz über den Zaun des Nachbarn zu springen. Wozu diese Mühe? Training? Oder was wächst da auf der anderen Seite? Egal. Abwechslung muss sein, man kann schließlich nicht jeden Tag Krokusse und Stiefmütterchen futtern, das wäre so wie täglich Honigbrötchen und Kakao, einfach langweilig. Und auf die Dauer ungesund.
So hat sich Anton überlegt, dass irgendjemand den vermutlich ahnungslosen Tieren verklickern muss, wie sich das mit den Frühblühern verhält. Über Ernährung scheinen die in der Schule auch nicht viel zu lernen, das kennt man ja. Nun fragt sich sicherlich ein Reh, wozu halten sich Menschen Blumen, die nicht fressbar sind? Deshalb sollten die Tierchen unbedingt einmal nachlesen. Im nächsten Frühjahr wird er ihnen sein Laptop rausstellen, danach wissen sie Bescheid.

Ein Jahr später:

Hi! Ich bin Dot, voll angesagt in der Szene. Früher, als Kitz, haben mich alle Pünktchen genannt, wegen der krass gesprayten Flecken auf meinem Fell. Jetzt wäre dieser Nickname echt peinlich, schließlich bin ich ein Jährling. Meinen Bast habe ich schon fast abgefegt. Naja, sieht noch ein bissel daneben aus, aber auf jeden besser als mit den dämlichen Knöpfchen auf der Rübe rumzuwackeln wie letztes Jahr. Sehe schon aus wie ein heftiger Bock mit echtem Gehörn. Meine Decke ist hellbraun, hat keinen einzigen Punkt mehr. Aber Dot bin ich trotzdem. Den Mädels gefalle ich auch, bin bei den Schmalen der absolute Burner.
Und weil ich es voll drauf habe, war ich neulich bei den Steinhöhlen. Also die, in denen die Tiere mit fast ohne Fell leben, die sich fremde Decken überhängen und ihre Vorderläufe meist nach oben strecken, manchmal wühlen sie damit auch in der Erde. Die Mutter nennt sie Mensch, heißen wohl alle so. Jedenfalls gibt es bei denen supergeile Blüten, die sind einfach der Hammer! Die alten Ricken behaupten, man bekäme davon jämmerliche Bauchschmerzen, also gefährlich. Ein Onkel von mir wäre nach Krokussen, so nennen die Alten diese Blüten, gestorben. Er hätte sich vor Schmerzen im Gras gewälzt und später haben ihn die Vögel gefressen. Vermutlich kursieren in jedem Sprung abschreckende Geschichten, die von Generation zu Generation weitererzählt werden, aber was reden die. Weil ich nicht jeden Mist glaube, habe ich es versucht, nur ein Blättchen: wild das Zeug! Mir war danach ganz leicht, ich hatte das Gefühl über der Wiese zu schweben. Lilli, meine Queen unter den Schmalen, hat es auch probiert. Ich Depp hatte ihr gesagt, no risk, no fun. Und sie hat es getan. Danach hat sie sich gewunden vor Schmerzen, ich dachte sie stirbt. Seitdem redet sie nicht mehr mit mir. Ich bin ein Honk.

Als ich das letzte Mal bei den Steinhöhlen war, habe ich mitten in den Blüten ein rechteckiges, schwarzes Ding entdeckt, ein bisschen größer als ein Rhabarberblatt, aber exakt eckig. Auf diesem schwarzen, glänzenden Rechteck waren auch Blüten zu sehen, aber viel größer als die sonst sind. Ich hatte mir zwar geschworen, diese Krokusse nicht mehr anzurühren, aber das war echt total interessant, ein Notfall sozusagen. Nur gucken. Das schwarze Ding hatte einen Knick, und es gehörte noch ein unteres Rechteck dazu, das stand auf der Erde, und darauf waren lauter Knöpfe mit eigenartigen Zeichen. Ich glaube, mich erinnern zu können, dass ich drinnen in dem Steinbau eines dieser felllosen Tiere habe mit den Schalen der Vorderläufe darauf herumtippen sehen. Ganz vorsichtig berührte ich einen der Knöpfe. Plötzlich begannen sich die Blüten auf dem oberen Rechteck zu verändern. Gruslig. Jetzt waren sie noch größer. Ich ging ganz nah an das schwarze Ding heran und roch. Nichts. Es roch nach gar nichts. Kein Blütenduft. Wozu das alles? Vielleicht sollte ich, natürlich nur zu wissenschaftlichen Zwecken, an einer Blume lecken, nur kurz die Blüte berühren, das dürfte eigentlich nichts schaden. Ich nahm all meinen Mut zusammen, leckte daran und erschrak. Die Zunge glitt über eine kalte, glatte Fläche, und kein Geschmack. Wofür ist das gut? Ich war ahnungslos. Ein allerletztes Mal, nur um das Geheimnis zu lüften, wie es schmeckt, muss ich ein klitzekleines Stück von einem Blütenblatt versuchen. Ich schwöre, danach tue ich es niemals wieder, und ich schlucke es auch nicht hinter. Ich biss zu. Au! Es war ein ekliges, hartes Kunststoffbrett. Und die Blüten, wo sind sie hin? Sie waren spurlos verschwunden! Das schwarze, rechteckige Ding hatte jetzt an der oberen Kante ein Loch. So ein blödes Teil, einfach lost! Mein rechter Schneidezahn schmerzte. Hoffentlich ist er nicht abgebrochen. Was sind diese Menschen für Hirnis? Gucken auf schwarze Dinger, auf denen nix los ist! Die tun so, als ob Blüten drin wären, die aber nach nichts riechen und nach nichts schmecken, weil sie in echt gar nicht da sind. Krokusse sind für mich durch, for ever! Und die Typen in den Steinhöhlen sind einfach nur Vollpfosten. Aber einen Dot hebt das echt nicht an.



Vielen Dank an Mandy Halter für die Beratung zur Jugendsprache.



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